Agiles Management ist gerade groß im Kommen. Sie machen einen Unterschied zwischen agiler führen und agilem Führen, warum?
Agiles Management ist der Überbegriff, er bezieht sich auf Unternehmens- und Personalführung. Agiles Management wird teils als Methode verkauft, die es nicht ist. Agiles Führen wiederum verstehen viele als Aspekt der Personalführung oder auch als Führungsstil. Für mich ist es das nicht. Deshalb „agiler“. Ich denke, jede Führungskraft kann agiler werden, gleich von welchem Führungsverständnis sie agiert. Dafür muss man nur wissen, wo man steht und die Agilität in der Führung entsprechend dosieren.
Braucht eine Gruppe nicht einen Anführer, der weiß, in welche Richtung eine Gruppe marschieren soll?
Klar, absolut. Ich finde es unsinnig, jetzt zu fordern, es solle nur noch Führung von unten geben. Außerdem ist Führung von unten, also dienstleistende, coachende, moderierende oder auch „Indianer-Führung“ keine Führung, die ohne Stärke und auch unterschiedlichen Stärken auskommt. Natürlich muss eine coachende Führungskraft ebenso eine hohe persönliche Reife haben und selbstsicher sein, mehr sogar als eine „von oben“ führende. Wenn die üblichen Insignien der Macht wegfallen, ist Persönlichkeit ein noch viel entscheidenderer Faktor. Wenn der König keine Krone mehr trägt, die ihm Macht verleiht, muss er diese aus sich heraus generieren: Aus der Fähigkeit, mehr Aspekte zu sehen und integrieren zu können und aus innerer und nach außen getragener Souveränität, die das Vermögen einschließt, keine Angst vor eigenen Fehlern, Kritik und Konkurrenz zu haben. Denn nur das akzeptieren Mitarbeiter. Der Stärkere braucht in agilen Zeiten Selbstreflexion, aber eben keine Selbstzweifel.
Allerdings kann es viel mehr Unterschiede in der Führungsinterpretation geben als früher. Ein Scrum Master, der im Grunde eine Führungsrolle hat, braucht nicht den Charakter eines Robin Hoods, sondern gute moderierende Fähigkeiten. Der CEO eines Unternehmens kann diese gut gebrauchen, benötigt aber zusätzlich noch deutlich mehr, etwa an visionärer Kraft und Kommunikationsfähigkeit im Sinne einer angstbindenden Wirkung. Mir wird auch in der agilen Szene oft zu viel über einen Kamm geschoren.
Ein weiterer Aspekt: Auch ist der starke Anführer von heute nicht der von gestern. Führungsstile unterscheiden sich kulturell, aber auch soziokulturell. Agilität kann so überall etwas anders ausgelegt werden. Aber psychologisch gesehen ist und bleibt es so: Gerade in Krisensituationen werden Menschen dem „Starken“ folgen. Ob Stärke nun in Gestalt eines Erdogans, Putins, Trumps, einer Merkel oder eines durchaus schon mit agilen Ideen hantierenden Steve Jobs auftritt – sie bleibt wichtig, denn sie wirkt angstbindend. Menschen haben Angst in Veränderungssituationen, das ist normal.
Es ist leicht, Führungsaufgaben auszuüben, wenn das Umfeld sicher zu sein scheint, aber schwer, wenn dies nicht der Fall ist. Und im Zuge der Digitalisierung gibt es immer weniger Sicherheiten. Das macht die Anforderungen an starke Führung noch einmal größer.
Was Stärke ist – und Anführerschaft – wird ebenso neu interpretiert wie die Frage, in welcher Führungsposition man eigentlich welche Stärke braucht. Gemeinsam über alle Ebenen und Führungsrollen ist nur eins: Jemand, der Führungsaufgaben übernimmt, braucht entwicklungspsychologisch eine höhere persönliche Reife als seine Mitarbeiter. Sonst kann er sie nicht erreichen und schon gar nicht entwickeln. Diesen Aspekt sehen gerade deutsche Unternehmen oft nicht.
Insofern muss man beim Thema „Anführerschaft“ unterscheiden: a.) In welcher Situation ist ein Unternehmen, b.) was ist der Reifegrad von Führung und Mitarbeitern und c.) wie wirkt sich unternehmenskulturelle, kulturelle, aber auch soziokulturelle Prägung der Belegschaft aus?
Sie coachen und beraten verschiedenste Unternehmen und reden mit sehr unterschiedlichen Führungskräften. Vor welchen Herausforderungen fürchten Sie sich Ihrer Meinung nach, wenn es um veränderte Führungshierarchien geht?
Es gibt zwei große Themenfelder. Das eine ist das Thema „andere einbinden“ in eigene Entscheidungen. Die meisten Führungskräfte sind geprägt von der Überzeugung, Alleinentscheider und Alleswisser zu sein. Sie sind es nicht gewohnt, andere Experten oder Teams einzubeziehen oder gar Entscheidungsverantwortung abzugeben. Ein Beispiel: Eine Marketingleiterin erzählt mir, dass sie im Zuge der Digitalisierung den Überblick verloren hat und sie das verunsichert. Sie kann nicht mehr alles überschauen, hat aber diesen Anspruch. Warum? Sie müsste die richtigen Experten einbinden und viel kommunizieren, offen Fragen stellen, den Blick der anderen weiten, neue Perspektiven einbinden usw. Das ist fremd für viele Führungskräfte. Sie schämen sich oft sogar nicht alles zu wissen – und sie übersehen die Kraft der offenen, dialogorientierten Führung.
Das zweite große Themenfeld ist die Verantwortungsübernahme durch Mitarbeiter. Es gibt Führungskräfte, die Selbstverantwortung fördern und sehr überrascht sind, dass das nicht klappt. Viele Mitarbeiter wollen gar keine Verantwortung, nichts entscheiden. Das hat ebenso mit persönlicher Reife und Ich- bzw. Identitätsentwicklung zu tun, mit der Motivstruktur der Mitarbeiter und natürlich auch mit Gewohnheit. Wer 20 Jahre nicht entscheiden durfte, wird es nicht plötzlich tun, wenn man es ihm sagt. Wer kein Machtmotiv hat, wird lernen können, bestimmte Verhaltensweisen zu übernehmen und Regeln zu folgen – aber Lust an der Einflussnahme und Steuerung bekommt er dadurch nicht. Das wird viel zu wenig gesehen in der Personalentwicklung: Entscheidend sind auch die Motive der Mitarbeiter, als stabile Antreiber. Dieser ermöglichen immer Verantwortungsübernahme, aber auf unterschiedliche Weise.
Sie haben mit Ihrem Unternehmen das Teamklima für Innovation in agilen und nicht-agilen Gruppen untersucht. Zu welchem Ergebnis ist Ihre Studie gekommen?
Wir haben herausgefunden, dass das Teamklima für Innovation in agilen Teams signifikant besser ist. Dazu haben wir erst einmal definiert, was agil überhaupt ist: kein Vorgesetzter, also Selbstorganisation, Offenlegen der Arbeitsprozesse durch Visualisierung, iteratives Vorgehen, Retrospektiven. Das heißt, es ging uns nicht um Frameworks wie Scrum oder Kanban, sondern um das, was in diesen Umfeldern den Kern ausmacht, nämlich strukturierte Kommunikation und Workflow-Offenlegung. Nicht nur die statistischen Ergebnisse auch die Kommentare in den Interviews zeigten ganz eindeutig, dass es mehr Kommunikation in einem agilen Umfeld gibt und die Konzentration auf Inhalte größer ist. Wissensaustausch war selbstverständlicher. Das macht agile Teams nicht glücklicher, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie produktiver sind, ist groß.
Können Sie uns ein Beispiel nennen, welches Unternehmen erfolgreich agil geführt wird?
In meinem Buch gibt es Interviews als Beispiele, unter anderem mit Susanne Kaiser, CTO von Justsoftware AG. Außerdem findet sich dort ein Gespräch mit der Hamburger Agentur Ministry, die ebenso agil geführt wird. Dabei legen beide Agilität durchaus unterschiedlich aus und das ist auch spezifisch. Agil ist nicht gleich agil. Es gibt verschiedene Stufen, die ich in meinem Buch auch vorstelle. So hat der Online-Schuhhändler Zappos vor einiger Zeit die Holakratie eingeführt, die sich als agiles Organisations-Framework bezeichnen ließe. Das Beispiel zeigt aber auch, dass nicht alles Gold ist, was agil heißt. Zappos steht derzeit schlechter da als zu Zeiten der Einführung.
Agilität ist eben kein Schuh, der jedem passt. Zudem halte ich nichts von radikalen Umstrukturierungen, sondern sehe evolutionäre Entwicklung als wesentlich angebrachter an. Ausnahme sind Unternehmen, die sich radikal umbauen müssen, um zu überleben. Alle anderen sollten schauen, wo sie stehen und Maßnahmen darauf abstimmen und mit Experimenten beginnen.
Was empfehlen Sie Führungskräften, die in Unternehmen mit klassischen Strukturen arbeiten, aber gerne in agilen Teams wären?
Jeder kann seinen Bereich und seine Art der Führung ein Stückweit auch selbst gestalten. Gerade auf unteren Ebenen lässt sich durch mehr Moderation und Coaching viel erreichen. Ich finde auch, dass Führungskräfte mehr Kenntnisse im Bereich Gruppendynamik brauchen. Insgesamt kann jeder lernen, sich selbst ein Stück mehr zurückzunehmen, um den Mitarbeitern und dem Team mehr Verantwortung zu geben. Führungskräfte sollten aufhören sich als fachliche Oberaufseher zu begreifen und mehr als Menschenentwickler, eben vor allem auf der unteren und mittleren Ebene.
Sie haben ein Buch über Ihre Studie und das Thema „Agiler führen“ geschrieben. Was hat Sie dazu motiviert?
Mir war schon vor drei Jahren klar, dass das ein Thema werden würde, da war von Agilität in Führung noch keine Rede. Es kamen neue Ideen auf, etwa die der Holakratie. Das Buch „Reinventing Organizations“ von Frederic Laloux schlug ein wie ein Bombe. Mit ihm kamen auch erstmals entwicklungskulturelle und entwicklungspsychologische Gedanken in die Managementliteratur. Allerdings besteht die Neigung, diese zu stark zu vereinfachen und in „gut“ und „schlecht“ zu kategorisieren. Es ist aber nicht alles schlecht, was früher war oder gut, was heute ist. Man muss viel genauer hinsehen.
Ich habe parallel gesehen, dass das bisherige Management by Objectives (MBO) an Bedeutung verlor. Es wurde immer klarer, dass man Mitarbeiter eben nicht nur mit Zielen führen kann. Diese so genannte transaktionale Führung des MBO-Zeitalters funktioniert in unsicheren Zeiten nicht mehr, da braucht es viel mehr Stärke durch Kommunikation und Persönlichkeit.
Wer sollte Ihrer Meinung nach das Buch lesen?
Alle, die mit Führung zu tun haben und die diese entwicklungspsychologischen und entwicklungskulturellen Aspekte interessieren. Berater, Coachs, Personaler. Aber auch alle, die mit Agilität zu tun haben und kein psychologisches Hintergrundwissen haben. Die Praktiker, die direkt umsetzen wollen, aber auch theoretisch und breiter Interessierte. Nicht lesen sollten es Leser, die an einfachen Rezepten interessiert sind. Die gibt es nämlich nicht.
Gibt es ein Tool, das Sie Führungskräften besonders empfehlen können, wenn agile Strukturen eingeführt werden sollen?
Wir haben das agile Reifegrad-Grid entwickelt sowie ein Stufenmodell für agile Werteentwicklung. Das sind Tools, die man sich als Leser herunterladen kann und die wir auch in unseren Ausbildungen vermitteln.
Sie bieten auch eine Ausbildung zu agiler Teamentwicklung und ein Seminar zu diesem Thema an. Kann man agiler führen während eines Seminars erlernen oder ist das nicht doch eher ein langwierigerer Prozess?
Das ist ein Prozess. Das Seminar kann aber helfen, den eigenen Standort zu finden und darauf passende Maßnahmen zu ermitteln. Die Ausbildung vermittelt unter anderem auch gruppendynamisches Wissen, Moderations- und Coachingkenntnisse und durch den Prozess über 9 Monate auch eine Umsetzungsbegleitung.
Über Svenja Hofert:
Svenja Hofert ist Buchautorin, Unternehmerin und Entwicklungscoach für Führungskräfte. Als Mitgeschäftsführerin der Teamworks GTQ Gesellschaft für Teamentwicklung und Qualifizierung bildet sie Teamgestalter für die neue Arbeitswelt aus. Als Leiterin der Karriereexpertenakademie qualifiziert sie Coachs.
Die Expertin mit Master of Science (M.Sc.) in Wirtschaftspsychologie und Magisterabschluss hat mehr als 30 Ratgeber, Sach- und Fachbücher verfasst.
Weitere Informationen zu Svenja Hofert finden Sie auch unter:
www.teamworks-gmbh.de/workshops
www.karriereblog.svenja-hofert.de